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Corona: Was brauchen besonders Begabte jetzt?

Nachgefragt bei Dr. Michael Wolf vom Hoch-Begabten-Zentrum Rheinland, NRW

Datum

10/2020

 

soziale Kontakte - wertschätzendes Umfeld - persönliche Begleitung & Anregende Lerninhalte - Methodenkompetenzen

Interview mit Dr. Michael Wolf,
fachlicher Leiter des Hoch-Begabten-Zentrums Rheinland (HBZ), Nordrhein-Westfalen

Hoch-Begabten-Zentrum Rheinland

Die Corona-Pandemie beeinflusst unseren Alltag erneut massiv. Die Auswirkungen der Schulschließungen und Einschränkungen in der Freizeitgestaltung auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen während des Lockdowns im Frühjahr werden langsam deutlich. Bildungs- und Beratungseinrichtungen reagieren auf die fortwährenden Herausforderungen mit innovativen Ansätzen, um auch jetzt Familien mit besonders begabten Kindern zu unterstützen. Diesmal berichtet uns Dr. Michael Wolf, welche Angebote und Erfahrungen das Hoch-Begabten-Zentrum (HBZ) Rheinland in Brühl gemacht hat.

Das Interview führten Christine Koop und Dr. Wiebke Evers aus dem Ressort Beratung der Karg-Stiftung im Oktober 2020.

 

HErr Dr. Wolf, das Hoch-Begabten-Zentrum setzt Projekte wie das Grundschulfördermodell für besonders begabte und leistungsstarke Grundschulkinder um.
(Wie) konnten solche Projekte in Corona-Zeiten weiterlaufen?

Die Schulschließung Mitte März 2020 kam für alle Seiten sehr überraschend. Uns war bewusst, dass sich die Familien in den ersten Wochen bis zu den Osterferien zunächst auf die besondere Homeschooling-Situation und die Vereinbarkeit von Beruf und Betreuung einstellen müssen. Wir verzichteten daher auf zusätzliche digitale Angebote, um diese herausfordernde Situation nicht unnötig zu belasten. Nach den Osterferien haben wir dann wöchentlich Kontakt auch mittels Videobotschaften zu den Dritt- und Viertklässlern gehalten und sie mit freiwilligen Aufgabenpaketen versorgt. Uns war es wichtig, dass wir die Enrichment-Förderung weiter aufrechterhalten und den Kindern ein digitales Angebot zur Verfügung stellen, damit sie sich weiterhin mit herausfordernden Aufgaben in ihrem Interessenspektrum beschäftigen können. In einer nachgelagerten Befragung haben wir das Feedback erhalten, dass die Aufgabenpakete sehr geschätzt wurden, sich die Umsetzung bei einigen Familien aber auch schwierig gestaltete. Vor allem diejenigen Schülerinnen und Schüler, bei denen die Eltern keine Unterstützung bei der Anleitung der Aufgaben oder dem Feedback geben konnten, haben das Angebot leider nicht oder nur in sehr sporadischer Form nutzen können. Die Corona-Situation hat uns nochmals verdeutlicht, dass auch sehr begabte Kinder eine engmaschige Unterstützung benötigen und nicht „von alleine laufen“.

In Ihrer Befragung haben Sie die am Fördermodell teilnehmenden Grundschulkinder und ihre Eltern zu ihren Erfahrungen während der Schulschließung befragt. Wie haben besonders begabte Kinder die Homeschooling-Situation erlebt?

Rund 100 Kinder der 3. und 4. Klassenstufe haben an der anonymen Befragung teilgenommen und ein gemischtes Bild von dieser Zeit skizziert. Sehr positiv haben die Kinder die freie Zeiteinteilung und das eigene Lerntempo erlebt. Eine Schülerin der 3. Klasse aus Brühl berichtete in dem Zusammenhang: „Ich muss nicht auf die anderen Kinder warten und kann so schnell die Hausaufgaben fertig machen wie ich will und Lust dazu habe“. Ein Drittklässler aus Wesseling betonte: „Ich konnte mir den Tagesablauf selber einteilen und hatte dadurch viel mehr Zeit“. Die begabten Schülerinnen und Schüler haben es auch geschätzt, ungestört zu Hause arbeiten zu können und das Erlernte nicht so oft wiederholen zu müssen.

Als negative Aspekte führten die Kinder auf, dass sie ihre Freunde, Mitschüler und Mitschülerinnen und auch die Klassenlehrkraft in dieser Zeit sehr vermisst haben. Ferner empfanden sie die fehlende Unterstützung bei der Aufgabenbearbeitung als ungünstig. Eine Schülerin aus Frechen ließ uns wissen, dass sie „...am Homeschooling auch schlecht [fand], dass man sich alles quasi selbst beibringen musste“. Eine Drittklässlerin aus Bergheim klagte: „Mir haben die Erklärungen der Lehrer gefehlt“. Insgesamt zeigt die Befragung deutlich auf, dass sich die begabten Schülerinnen und Schüler in der Zeit der Schulschließungen mehr direkten Kontakt und das Feedback durch die Lehrkraft gewünscht haben. Die Ergebnisse decken sich interessanterweise mit den Befunden aus anderen Befragungen wie die des IfBQ in Hamburg und des SCHELLE-Projektes der Universität Trier. Bei diesen Studien lag der Fokus jedoch nicht auf besonders begabten Kindern. Die Ergebnisse unserer Befragung zeigen somit auf, dass sich die Bedürfnisse von sehr begabten und normal begabten Schülerinnen und Schülern in diesem Punkt sehr ähneln.

Ist das überraschend für Sie gewesen? Begabten Kindern wird doch eigentlich die Fähigkeit zugeschrieben, sich gerne auch selbst Wissen und Fähigkeiten anzueignen.

Intellektuell begabte Kinder haben zwar per definitionem eine höhere Auffassungsgabe und können sich dadurch Lerninhalte schneller aneignen. Dies bedeutet aber keineswegs, dass sie automatisch ein gutes Lern- und Arbeitsverhalten besitzen, bestimmte Lerntechniken beherrschen oder über bessere Selbstregulationsmechanismen bei der Aneignung von Wissen verfügen. Sich selbstständig etwas beizubringen, zu behalten und erfolgreich im Transfer zur Anwendung zu bringen, ist eine Kompetenz, die begabte Schülerinnen und Schüler in gleicher Weise erlernen müssen wie alle anderen Kinder auch.

Unsere Erfahrungen in der Beratungsstelle und in den Projekten zeigen sogar, dass sich viele begabte und hochbegabte junge Menschen gerade damit sehr schwer tun. Dies hat vor allem damit zu tun, dass sie im schulischen Alltag – insbesondere in der Grundschulzeit – häufig nicht ausreichend gefordert werden und meist durch bloße Anwesenheit im Unterrichtsgeschehen genug aufschnappen, um den Stoff zu durchdringen. Diese Schülerinnen und Schüler haben es überwiegend gar nicht nötig, eine Anstrengungsbereitschaft zu entwickeln und das „Lernen zu lernen“, da sie auch ohne diese Fähigkeiten sehr gute Noten erzielen. Es ist davon auszugehen, dass in der Zeit der Schulschließungen diese Kompetenzen im Rahmen des Distanzunterrichts noch viel weniger bei den besonders Begabten eingefordert wurden.

Wenn Sie die Ergebnisse Ihrer Befragung und Ihre Erfahrungen aus der Beratung betrachten: Was brauchen besonders begabte Kinder mit Blick auf die aktuelle Situation?

Zunächst einmal: Begabte und hochbegabte Kinder haben im Hinblick auf eine erfolgreiche Beschulung und Entwicklung die gleichen Bedürfnisse wie alle anderen Kinder auch. Unsere Befragung hat dies nochmal klar zum Vorschein gebracht. Sie sehnen sich nach sozialen Kontakten zu Gleichaltrigen, sie profitieren von einem wertschätzenden Umfeld – sowohl schulisch als auch außerschulisch – und sie benötigen ebenso eine persönliche Begleitung durch Lehrkräfte, die ihnen den Unterrichtsstoff vermitteln und Feedback geben. Nur ein paar Zusatzaufgaben oder Arbeitsblätter sind langfristig keine adäquate Förderung für diese Zielgruppe.

Begabte Schülerinnen und Schüler brauchen Anregungen und Lerninhalte auf ihrem Niveau. Nur wenn sie herausgefordert werden, haben sie die Chance, eine Anstrengungsbereitschaft und Leistungsmotivation auszubilden. Auch sollten Schulen einen Fokus auf die Vermittlung von Methodenkompetenzen legen, um das Lern- und Arbeitsverhalten bei diesen Kindern zu stärken. Erfolgreiches Lernen in der Schule setzt positive Bindungs- und Beziehungserfahrungen voraus. Daher ist es auch für die begabten Schülerinnen und Schüler essentiell, in ihrem Lernfortschritt begleitet zu werden und eine Resonanz auf ihr Verhalten in Form von Feedback, Wertschätzung und Anerkennung zu erhalten – sowohl seitens der Lehrkräfte als auch von Gleichaltrigen. In unseren Begabtenförderprojekten versuchen wir diese Prinzipien zu beherzigen, um zu einer erfolgreichen Begabungsentfaltung beizutragen.

Wie werden Sie im HBZ Rheinland in den nächsten Monaten weiter auf die Corona-Pandemie reagieren? 

Aufgrund der Corona-Pandemie setzen wir uns im HBZ verstärkt mit der Konzeption von digitalen Lehrformaten auseinander, um auch in Phasen des Distanzunterrichts den begabten Schülerinnen und Schülern in dieser Hinsicht gerecht zu werden. Aktuell bieten wir beispielsweise ein Online-Kursprogramm für Schülerinnen und Schüler der 1. bis 6. Klassen zu ganz unterschiedlichen Interessenschwerpunkten an (u.a. Astronomie, Scratch-Programmierung, Kreatives Denken). Im Rahmen unserer Beratungsarbeit setzen wir ebenfalls bereits digitale Formate ein, sofern dies seitens der Klienten akzeptiert wird. In den kommenden Wochen und Monaten werden wir uns verstärkt mit der Entwicklung von digitalen sowie Blended Learning-Fortbildungsangeboten auseinandersetzen, um auch in diesem Bereich auf die Corona-bedingten Einschränkungen zu reagieren. Interessierten Schulen und Institutionen stehen wir für einen diesbezüglichen Erfahrungsaustausch jederzeit gerne zur Verfügung.

 

ZUR PERSON & INSTITUTION:


Dr. Michael Wolf ist Dipl.-Psychologe und fachlicher Leiter des Hoch-Begabten-Zentrums (HBZ) Rheinland in Brühl. Er leitet den Arbeitskreis „Hochbegabung in der Schulpsychologie“.

Das HBZ bietet Beratung, Diagnostik und Förderung für Kinder und Jugendliche mit besonderen Begabungen und deren Familien an sowie Beratung und Fortbildungen für Bildungseinrichtungen. Es ist langjähriger Kooperationspartner der Karg-Stiftung. Für sein Engagement für Underachiever erhielt das HBZ im Jahr 2011 zusammen mit dem Wilhelm-Ostwald-Gymnasium den Karg Preis.


Hoch-Begabten-Zentrum Rheinland gGmbH (HBZ)
Schützenstraße 25
50321 Brühl
Hoch-Begabten-Zentrum Rheinland

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